Border Complexities

Die Border Studies zählen seit den letzten Jahrzehnten zu den aufstrebenden Arbeitsfeldern der Sozial- und Kulturwissenschaften. Neben wissenschaftstheoretischen Wenden ist dies vor allem auf jüngste gesellschaftliche Entwicklungen und das verstärkt nachgefragte Wissen über Grenz- und Migrationsdynamiken zurückzuführen. In diesem Zuge erfahren die Border Studies nun auch in Europa eine fortschreitende Institutionalisierung, ebenso wie sie zunehmend mehr Disziplinen einschließen.

Vor diesem Hintergrund umfassen die Border Studies heute eine große Bandbreite an Forschungsgegenständen im Kontext von Grenzen, die von Beschäftigung, Bildung über Raumentwicklung und Politik bis hin zu Geschichte, Sprache oder Kultur reichen. Dabei hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sich die Funktions- und Wirkungsweise von Grenzen weniger an den Rändern von nationalen Territorien ablesen lässt, als dass Grenzen vielmehr erst über die Untersuchung der Prozesse ihrer Einsetzung, Verschiebung, Unterwanderung etc. verstehbar werden. Diese Betrachtungsweise hat sich in den Border Studies spätestens seit den 2000er Jahren mit dem Ansatz des bordering durchgesetzt (Paasi 1999; van Houtum 2002; Sahlins 1991; Motsch 2001; Rutz 2018).

Die Applikation dieses Ansatzes zeigt allerdings, dass die analytische Perspektive noch nicht hinreichend entwickelt ist, um die drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen in Europa und darüber hinaus hinreichend zu erfassen und zu verstehen. Die Kritik am Bordering-Ansatz zielt auf unzureichende Konzeptualisierung und Unterkomplexität und hat in jüngster Zeit zu einer Weitung der analytischen Perspektive geführt, etwa in den Critical Border Studies (Parker et al. 2009; Parker/Vaughan-Williams 2012) oder Cultural Border Studies (Gerst et al. 2018; Weier et al. 2018). Beide Strömungen versuchen Bordering-Prozesse analytisch aufzufächern und ihre verschiedenen miteinander verknüpften Dimensionen in den Blick zu bekommen.

Diese seit knapp einem Jahrzehnt zu beobachtende Weiterentwicklung deutet auf einen sich vollziehenden complexity shift in den Border Studies hin, insofern als Grenz(raum)phänomene in ihrer Komplexität und Relationalität zu verstehen versucht werden.

Dieses Anliegen gründet auf der Einsicht, dass sich Grenzen nicht über eindeutige Setzungen von dichotomen Ordnungen, eindeutige Trennleistungen von nur wenigen Akteuren oder am territorialen Rand von Nationalgesellschaften realisieren. Grenzen werden in den rezenten Border Studies vielmehr als Resultate und Kristallisationspunkte von vielschichtigen Formationen verstanden, die aus dem (situativen) Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure, Aktivitäten, Körper, Objekte, Wissen resultieren und veränderbar sind (Amilhat Szary/Giraut 2015; Brambilla 2015; Hess 2018; Weier et al. 2018; Gerst et al. 2018). Solche für Grenzen ursächlichen oder aus ihnen hervorgehenden dynamischen Konstellationen fasst der Begriff der Border Complexities.

Sie stehen im Zentrum des interdisziplinären Projekts und sollen über unterschiedliche analytische Zugänge konzeptualisiert und anhand empirischer Beispiele diskutiert werden. Dafür wird eine sorgfältig abgestimmte Reihe an Ateliers durchgeführt, die eine strukturierte und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit einer rezenten Entwicklung der Border Studies ermöglicht.

 

Referenzen

Amilhat Szary, Anne-Laure / Giraut, Frédéric (2015): Borderities: The Politics of Contemporary Mobile Borders. In: Amilhat Szary, Anne-Laure / Giraut, Frédéric (Hg.): Borderities and the Politics of Contemporary Mobile Borders. Basingstoke, Palgrave, 1-22.

Brambilla, Chiara (2015): Exploring the Critical Potential of the Borderscapes Concept. Geopolitics 20 (1), 14-34.

Bürkner, Hans-Joachim (2017): Bordering, borderscapes, imaginaries: From constructivist to post-structural perspectives. In: Opiłowska, Elżbieta / Kurcz, Zbigniew / Roose, Jochen (Hg.): Advances in Borderlands Studies. Baden-Baden, Nomos, 85-107.

Gerst, Dominik / Klessmann, Maria / Krämer, Hannes / Sienknecht, Mitja / Ulrich, Peter (2018): Komplexe Grenzen. Aktuelle Perspektiven der Grenzforschung. Berliner Debatte Initial 29 (1), (Special issue „Komplexe Grenzen“), 3-11.

Hess, Sabine (2018): Border as Conflict Zone. Critical Approaches on the Border and Migration Nexus. In: Bachmann-Medick, Doris / Kugele, Jens (Hg.): Migration. Changing Concepts, Critical Approaches. Berlin, de Gruyter, 83-99.

Motsch, Christoph (2001): Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575–1805). Göttingen.

Paasi, Anssi (1999): Boundaries as Social Practice and Discourse: The Finnish-Russian Border. Regional Studies 33(7), 669-680.

Parker, Noel / Vaughan-Williams, Nick (2012): Critical Border Studies: Broadening and Deepening the ‚Lines in the Sand‘Agenda. Geopolitics 17(4), 727-733.

Parker, Noel / Vaughan-Williams, Nick et al. (2009): Lines in the Sand? Towards an Agenda for Critical Border Studies. Geopolitics 14:3, 582-587.

Rumford, Chris (2011): Seeing like a border. Political Geography 30(2), 67-68.

Rumford, Chris (2012): Towards a Multiperspectival Study of Border. Geopolitics 17(4), 887-902.

Rutz, Andreas (2018): Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich. Köln, Weimar, Wien.

Sahlins, Peter (1991): Boundaries The Making of France and Spain in the Pyrenees. Berkeley u.a.

Van Houtum, Henk / Van Naerssen, Ton (2002): Bordering, ordering and othering. Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 93 (2), 125-136.

Weier, Sebastian / Fellner, Astrid / Frenk, Jochen / Kazmaier, Daniel / Michely, Eva / Vatter, Christoph / Weiershausen, Romana / Wille, Christian (2018): Bordertexturen als transdisziplinärer Ansatz zur Untersuchung von Grenzen. Ein Werkstattbericht. Berliner Debatte Initial 29 (1), (Special issue „Komplexe Grenzen“), 73-83.